Es ist das Einfahrtstor zur Northeimer Innenstadt: Die Mühlentorkreuzung. Mit einem langen Anlauf über die Rückingsallee verspricht sie einen einmaligen Blick auf die Mühlenstraße, den Rhumekanal und den Kornspeicher. Mit etwas Glück dauert dieser Blick auch etwas länger, denn kurz vor der Einfahrt in Südniedersachsens größte Fußgängerzone wartet einer der letzten Bahnübergänge der Stadt. Die Strecke Northeim-Nordhausen wird nicht oft befahren, und wenn, dann nur von kurzen Regionalzügen. Und doch schließen die Schranken lange genug, um über viele Dinge nachdenken zu können.

Die Südharzstrecke teilt Northeim in einen Nord- und in einen Südteil. Viele behaupten, die Rhume tue das tatsächlich und trenne den Wieter vom Rest der Stadt ab. Doch kenner fahren den Kilometer weiter und werden erst am Bahnübergang zwischen Rhumekanal und Mühlentor jäh gestoppt. Es gibt andere Wege, beide sind im Bundesregister als Bundesstraße 241 geführt: im Osten führt der Konrad-Adenauer-Damm über die Bahnschienen, im Westen wurde 1999 die Straße sogar aufwändig darunter verlegt. Wer aber unmittelbar in die Innenstadt einfahren möchte, kommt an den unbeirrbaren Bahnschranken nicht vorbei. Denn sie kennen nur zwei Signale: Auf und Zu. Fahrt oder Warten. Ja oder Nein.

Im Stadtgebiet gibt es nur zwei weitere solcher Bahnübergänge. Beide stoppen den Straßenverkehr vor der sagenumwobenen Südharzbahn. Am Hallenbad führt eine Einbahnstraße nur wenige hundert Meter entfernt vom Mühlentor über die Gleise. Ein paar Kilometer weiter müssen Kleingärtner und flugbegeisterte Northeimer ebenfalls vor der Schranke warten. Doch nirgendwo sonst wird die Zeit so sehr angehalten, wie am Mühlentor.

Die Ampel zeigt rot in allen Fahrtrichtungen. Mit stoischen Schlägen kündigt eine Glocke das langsame Fallen der Schranken an. Erst die für die Autofahrer, dann die kleineren für die Fußgänger. Manchmal sind verwegene Seelen zu beobachten, wie sie mit Einkaufstüte in der Hand und Zigarette im Mund schnellen Schrittes und geduckt unter die senkende Schranke durchwaschen, um doch noch auf die andere Seite zu kommen. Meistens gelingt es ihnen. Das Risiko, in diesem Moment von einem Zug überfahren zu werden, ist sehr klein. Denn es dauert nun sehr lange, bis dieser überhaupt kommt.

Das liegt vor allem an der Technik der Schranken. Denn bei der Schrankenanlage an der Mühlentorkreuzung in Northeim handelt es sich laut einer Bahn Sprecherin um eine signalabhängige Schranke, die der Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk im Northeimer Bahnhof bedient. „Dies bedeutet, dass ein Zug erst dann fahren darf, wenn alle drei Schrankenanlagen in der Northeimer Innenstadt geschlossen sind und der Fahrdienstleiter festgestellt hat, dass keine Personen oder Fahrzeuge eingeschlossen wurden.“

Wenn sich die Schranken also schließen, steht der Zug noch im Bahnhof und wartet genau so wie alle anderen. „Die Schließzeit kann daher mehrere Minuten betragen, insbesondere wenn es bei der Abfahrt des Zuges in Northeim zu Verzögerungen kommt, z.B. durch das Warten auf Anschlussreisende, Verzögerungen beim Ein-/Ausstieg oder Aufhalten von Türen.

Der Autofahrer wird in dieser Zeit gebeten, den Motor abzustellen. Das Klingen der Warnglocke ist auch eine akustische Zeitreise in eine Epoche, als sich die Motoren zum Spritsparen noch nicht von alleine abgestellt haben, sobald das Auto steht. Und wo wird es ruhig rund um die Kreuzung. Es wird gewartet: im Stehen auf dem Fußweg, im Sitzen hinter dem Lenkrad.

Für den Fußgänger reicht die Zeit locker für zwei genossene Zigarettenlängen. Dem Autofahrer bleibt nur der Blick in die zur Adventszeit immerhin hübsch beleuchteten Innenstadteinfahrt, der Radiosender – oder seine eigenen Gedanken. Wo muss ich hin? Wo komme ich her? Schaffe ich es jetzt noch pünktlich? Die Antwort auf die letzte Frage bringt viele dazu, doch noch einmal den Blinker zu setzen und entweder Richtung Fluth oder über den Kaufland-Parkplatz zu flüchten. Ost- und Westtangente sind die einzige Möglichkeit, die Schienen zu überfliegen oder unter ihnen wegzufahren.

Der Rest wartet, hört, sieht und denkt.

Am Eingangstor zur Innenstadt, dem einstigen Motor der Northeimer Wirtschaft. Das Mühlentor ist die Bremse für die Entwicklungs-Überholspur. Und gleichzeitig schafft sie Raum für Gedanken und Ideen, wie es irgendwann einmal weitergehen kann mit dieser Fachwerkstatt, mit diese Region und diesem besonderen Fleckchen Erde.

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