#Angedacht ist die Kolumne von Pastor Jens Gillner aus der Corvinus-Gemeinde in Northeim.
Zorn
„Eingeschlagene Schaufenster, fliegende Pflastersteine: In der Nacht haben sich in Stuttgart mehrere Kleingruppen Auseinander-setzungen mit der Polizei geliefert. Einsatzkräfte nannten die Lage ‚außer Kontrolle‘. Bei Straßenschlachten mit der Polizei haben in der Nacht zum Sonntag mehrere gewalttätige Kleingruppen die Stutt-garter Innenstadt verwüstet und mehrere Beamte verletzt.“ So konnte man am letzten Sonntagmorgen auf Tagesschau.de lesen. Und am Montag wurden Bilder von übel zugerichteten Polizisten auf Facebook gepostet, die man so richtig kaputtgeschlagen hatte. Es waren keine politisch motivierten Täter, sondern junge Menschen, die ordentlich dem Alkohol zugesprochen haben und sich nicht mehr unter Kontrolle hatten. Gewaltexzesse als Ersatz, weil das Vergnügen beschränkt ist?, fragt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner und befürchtet weitere Gewalt: „Aus der Sicht der Täter bringt das Bewunderung: ‚Da haben wir in der Nacht mal richtig aufgemischt.’“
Ein aktuelles Beispiel für den unterschwelligen Zorn in Deutschland. Die Bilder aus Göttingen vom gleichen Wochenende sind ein weiteres. Ich kann nicht sagen, ob es früher anders war, aber gefühlt sind die Hemmschwellen zu offener Beschimpfung, Hassrede und massiver Gewaltanwendung enorm herabgesetzt.
Anklage
Vor diesem Hintergrund lese ich den Predigttext für Sonntag, den 28. Juni aus dem Buch des Propheten Micha: Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.
Ich gebe zu, ich habe meine Mühe damit, mir vorzustellen, dass Gott ein so großes Herz haben soll, um alles unter den Teppich zu kehren, was Menschen einander tun. Vielmehr müsste ihm doch auch längst mal wieder der Kragen geplatzt sein wie einst zu Noahs Zeiten vor der Sintflut. Auch der Prophet Micha fragt staunend: Wo ist so ein Gott wie du, der Sünde vergibt, Schuld erlässt und seinen Zorn um der Gnade willen überwindet?
Dass Micha sich über Gott wundert, kommt nicht von ungefähr. Auch ihm steht das himmelschreiende Unrecht vor Augen, dass zu seiner Zeit jeden Tag verübt wird. Die Reichen rauben den Armen ihr Land. Und nur wer genügend Geld hat, kann sein Recht vor Gericht einklagen. Doch das hat in der Landbevölkerung Judas niemand. Micha schildert eine Gesellschaft, der jeglicher Gemeinschaftssinn abhanden gekommen zu sein scheint, die jegliche Solidarität abgestreift hat. Krass, wenn er die Reichen mit Schlachtern vergleicht, die ihren Opfern die Haut abziehen.
Eine Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist! Und wenn wir uns einander aufmerksam zuhören, entdecken wir ähnliche Vergleiche zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“ auch bei uns heute. Die Corona-Krise und die mit ihr verbundenen Einschränkungen haben bei vielen das Fass zum Überlaufen gebracht und der Unzufriedenheit und dem Zorn über dieses und jenes noch einmal so richtig Auftrieb gegeben.
Das Buch des Propheten Micha ist eine Anklageschrift an die Gesellschaft – besonders an die Reichen und Verantwortungsträger. Und gleichzeitig ist es ein Buch für die, die sich mit dem sie täglich anschreienden Unrecht nicht abfinden wollen. Denn wer darin liest, wird nicht umhin können, sich die Zeitung zu nehmen und kaum weniger wütend zu sein über die Ausbeutung, die Korruption, die Ungerechtigkeit an viel zu vielen Orten dieser Welt.
Vergebung
Wo ist so ein Gott wie du, der Sünde vergibt, Schuld erlässt und seinen Zorn um der Gnade willen überwindet? Dieser Satz steht stellvertretend für die andere Botschaft des Propheten. Und sie kommt anders daher, als sie sonst in der Kirche zu hören ist. Die Vergebung wird hier nicht sanft von Gott herbeigeredet. Nein, dieser Gott vergibt wütend! Micha beschreibt es so: Gott trampelt auf unserer Schuld herum, bis sie auch wirklich tot ist, und er wirft unsere Sünden in die Tiefen des Meeres, von wo sie auch garantiert nicht mehr auftauchen können.
Man kann diesen Worten noch abspüren, dass Gott nach wie vor zornig und wütend darüber ist, wie die Menschen seinen Willen mit Füßen treten. Was wäre, wenn Gott diesen Zorn über uns ähnlich ausleben würde wie die Randalierer von Stuttgart? Ich denke, es würde kein Stein auf dem anderen bleiben. Sintflut halt …
So aber gibt er seinem Zorn eine klare Richtung, und die ist anders als seinerzeit bei der Sintflut. Gott zerstört zwar die böse Tat. Er vernichtet das Unrecht selbst, jedoch nicht die Täter. Das mag in unseren Augen schon eine ziemliche Zumutung sein, weil es uns schwer fällt, die böse Tat und den Menschen, der sie getan hat, voneinander getrennt zu betrachten. Gott aber hält sich an sein Versprechen und an seinen Bund mit uns Menschen. Und deshalb sucht er das Böse zu zerstören und nicht den Menschen, der dem Bösen verfallen ist. Das ist Michas „Evangelium“.
Wir kennen Beispiele aus dem Neuen Testament, in dem Jesus genau das tut: die Geschichte von Zachäus, dem Zöllner, oder jene von der Ehebrecherin. Nein, es war nicht rechtens, was sie jeweils getan haben. Aber Jesus gibt ihnen eine neue Chance, sich erneut zu bewähren, es besser zu machen als bisher. Er lässt die böse Tat und das Unrecht, das sie begangen haben, nicht wie ein Mahnmal stehen, sondern schleudert sie in den Schlund des Vergessens, damit sie auch wirklich ein für allemal weg sind. Denn nur so kann jemand wirklich neu anfangen, eine neue Seite in seinem Lebensbuch beginnen.
Ich beginne langsam zu verstehen, was Vergebung eigentlich ist. Es sind nicht die Streicheleinheiten für die Täter und die wohlwollende Zusage an sie, dass sie schon nichts weiter zu befürchten hätten. Vergebung heißt: Gott vernichtet die böse Tat und das Unrecht und gibt dem Menschen eine neue Chance.
Im Lukasevangelium sagt der ans Kreuz geschlagene Jesus: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Wir Menschen wissen oft nicht, was wir tun. Auch die Täter von Stuttgart wussten es offensichtlich nicht. Vernebelt vom Alkohol, der Langeweile und dem Frust über ihr armseliges Leben erlegen konnten sie scheinbar nicht anders, als alles kurz und klein zu schlagen.
Aus persönlicher Gier, aus Rachsucht oder aus Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit heraus können Machthaber vielleicht anders, als Kriege zu entfachen und unermessliches Leid über ihr Volk zu bringen. Für uns aber gilt es zu verstehen, dass Gott nicht diese Menschen vernichten will, sondern ihre Langeweile, ihren Frust, ihre Gier, ihre Rachsucht, ihre Angst und ihre Verantwortungslosigkeit. Dem Sünder muss die Sünde und nicht das Leben genommen werden. Nur so wird er wieder zum Menschen. Das ist Vergebung.
An uns ist es allerdings, aus dieser zweiten Chance etwas zu machen, uns nicht wieder von unseren negativen, ja zerstörerischen Trieben leiten zu lassen. Das heißt vor allem, dass wir uns stets bewusst machen, was wir tun und was es bewirkt. Denn was gut und böse ist, wissen wir genau – spätestens seit Adam und Eva von jener Frucht gegessen haben, die am „Baum der Erkenntnis“ gehangen hat. Gott hat ihnen seinerzeit die Erkenntnis von gut und böse gelassen, nach der sie begehrt hatten – und hat sie in die Verantwortung genommen. Verantwortung auch dafür, es beim zweiten Mal besser zu machen als beim ersten. Dazu hilft uns Gott und ist bereit zu vergeben – wütend zwar, aber dennoch gnädig und barmherzig!