#AnGedacht ist die Serie auf Northeim-jetzt, in der sich Pastor Jens Gillner der Northeimer Corvinus-Gemeinde ein paar Zeilen Zeit nimmt. Einmal im Monat erscheint seine Kolumne exklusiv auf Northeim-jetzt.
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Die Gestalten zogen durch die dunklen Straßen. Sie waren müde von der Reise. Auch ihre Lasttiere trotteten erschöpft hinter ihnen her. Lange schon waren sie unterwegs einem besonders hellen Stern folgend. Wenn ein neuer Stern aufgeht, muss ein neuer König geboren worden sein, so war die Idee.
Und nun kommen sie von dem judäischen König Herodes aus Jerusalem hier nach Bethlehem, weil dessen Hofpropheten den neuen König hier vermuteten.
In diesem Kaff?
Außer dem Stern, der nach wie vor hell am Himmel leuchtete, lag das kleine Dorf größtenteils im Dunkeln. Wo ein König geboren wird, muss es doch eigentlich auch ein königliches Aufgebot geben: Einen Palast, Prozessionen, Menschen-massen, die dem neuen König huldigten.
Aber da war nichts.
Sie hatten ihre Hoffnung bereits aufgegeben, wollten bloß noch ein Quartier zum Ausruhen finden und sich dann am nächsten Morgen wieder auf den Rückweg machen, als der Stern plötzlich still stand. Es war bald am Ortsausgang. In der Dunkelheit war zunächst nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Doch dann sahen die Männer ein Licht aus einem der Stallgebäude hervorleuchten. Und als sie näher kamen, fanden sie ein junges Paar mit einem Neugeborenen, das in einer Futterkrippe lag. Und ein Engel erschien ihnen und sprach: Dieses Kind heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.
Es ist Weihnachten.
Fest der hohen Erwartungen, aber auch der großen Enttäuschungen – alle Jahre wieder. Ein Fest der Gegensätze, wie schon die eben geschilderte Begegnung mit den Sterndeutern gezeigt hat, die einen König suchten und ein ärmliches Kind fanden, das aber große Namen trägt und auf dem eine große Hoffnung zu ruhen scheint.
Gegensätze prallen auch in der Verheißung des Propheten Jesaja aufeinander (Jes 9,4– 5):
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.
Schaut man sich an, unter welchen Umständen dieser Text entstanden ist, wird man gewahr, dass es ein hochpolitischer Text ist.
Von Osten her bedrohten die Assyrer 734 v. Chr. das kleine Königtum Juda unter König Ahas. Ahas unterwarf sich dem assyrischen Großkönig, was in einflussreichen Kreisen in Jerusalem als Verrat gewertet wurde. Allianzen mit Nachbarreichen wurden geschmiedet, um Ahas zu stürzen. Es kam zum Bürgerkrieg. Und sich im Krieg nach Frieden zu sehnen, wundert uns nicht.
Bis in unsere jüngere Vergangenheit hat sich diese Sehnsucht durchgehalten. Sinnbildlich und für mich einzigartig zeigt sie sich in der sog. „Stalingrad-Madonna“, deren Original in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ausgestellt ist.
Der evangelische Pastor und Lazarettarzt Kurt Reuber schuf eine Holzkohlezeichnung auf der Rückseite einer russischen Landkarte, die eine sitzende Frauengestalt zeigt. Sie birgt unter dem Mantel ein Kind, das sie liebevoll ansieht und ihm Schutz und Geborgenheit gibt. Die Darstellung trägt die Umschrift „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“. Das Bild zieht mich in seinen Bann. Die Ruhe und Geborgenheit, die von ihm ausgeht, steht in Spannung zu den verzweifelten Umständen seiner Entstehung im Kessel von Stalingrad. Kein mir bekanntes Motiv fängt die Gegensätzlichkeit von Weihnachten besser ein.
Wenn wir heute im Jahr 2017 Weihnachten feiern, steht dieses Fest noch immer in dem Dilemma aus Kriegsgerassel und Sehnsucht nach Frieden. Der Wind in der Weltpolitik hat sich stark gedreht. Die Gefahr größerer internationaler Konflikte ist so groß wie lange nicht mehr. „Unheilige Allianzen“ haben sich zuhauf gebildet. Nur mit großer Sorge kann man das politische Weltgeschehen betrachten, wie es damals wahrscheinlich auch einige Gruppen in Juda getan haben.
Das Bild der Madonna stammt nun aus einer Zeit, in der die Lage tatsächlich eskaliert ist und bis heute tiefe Wunden gerissen hat.
Der Zeichner Kurt Reuber schreibt aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft an seine Frau:
Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt. Es sei uns ein Sinnbild sieghaften zukunftsfrohen Lebens, das wir nach aller Todeserfahrung umso heißer und echter lieben wollen, ein Leben, das nur lebenswert ist, wenn es lichtstrahlend rein und liebeswarm ist.
Das Kind als das „Erstgeborene einer neuen Menschheit, das alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt“; der Sieg des Lebens über alle Todeserfahrung – das sind Ausdrücke einer Sehnsucht, die uns Menschen vom Alten über das Neue Testament bis in unsere Gegenwart hinein verbindet. Und darum ist es kein Zufall, wenn wir sagen, dass mit diesem Kind in der Krippe Gott selbst in unsere Welt hineingeboren wird … um einen neuen Anfang zu machen, um Licht in unsere Finsternisse zu bringen, um uns eindringlich darauf hinzuweisen, dass wir nie aufhören dürfen, den Frieden zu suchen – im Kleinen wie im Großen.
Alle Jahre wieder müssen wir uns daran erinnern lassen, dass mit dem Kind in der Krippe keine Romantik in Szene gesetzt wird, sondern der Beginn eines neuen Zeitalters – ein Zeitalter freilich, in dem der Frieden, ja in dem „Licht, Leben und Liebe“ regieren sollen. Wir haben’s noch nicht ergriffen. Darum muss immer wieder Weihnachten werden.
Was ich mir zu Weihnachten wünsche? Eigentlich nur dies, dass wir irgendwann gar kein Weihnachten mehr feiern müssen, weil sich der weihnachtliche Frieden in der Welt und in unserem Alltag voll und ganz durchgesetzt hat und weil wir deshalb keines Retters mehr bedürfen.