Blind oder in einem Rollstuhl sitzend haben Bürgermeister Simon Hartmann und die Bundestagsabgeordneten Frauke Heiligenstadt und Karo Otte am Samstag die Northeimer Innenstadt erkunden. Das Experiment hat allerdings einen ernsten Hintergrund, inspiriert durch den Aktionstag für Inklusion der Aktion Mensch. Begleitet wurden die drei von Betroffenen. Ziel war es, aufzuzeigen, wie herausfordernd viele große und kleinen Stellen in Northeim sind. Mit den Erkenntnissen wird nun unterschiedlich umgegangen.
Das Kopfsteinpflaster der Northeimer Innenstadt wird für Frauke Heiligenstadt und Karo Otte zum Hindernisparcours. Simon Hartmann versucht auf dem Wochenmarkt eine Gurke zu kaufen, ohne sie zu sehen. Die beiden Bundestagsabgeordneten und der Bürgermeister trauen sich zusammen mit behinderten Menschen ein Experiment. Für rund zwei Stunden erleben sie die Northeimer Innenstadt zur Marktzeit mit einer eigenen Behinderung. Heiligenstadt und Otte sitzen im Rollstuhl, Hartmann hat sich eine Augenklappe aufgesetzt. Alle drei haben am Ende ihrer Reise ganz unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse gemacht. Leicht war es für keinen der drei.
Heiligenstadt sucht Fahrstuhl
Die SPD-Abgeordnete Frauke Heiligenstadt war mit Monika Nölting vom Beirat für Menschen mit Behinderungen unterwegs. Nölting ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen, eine gemeinsame Fahrt durch die Northeimer Innenstadt haben auch wir schon gemeinsam bewältigt. Heiligenstadt muss mit viel Muskelkraft sich und den Rollstuhl über die Pflastersteine schieben. Beim Versuch, einen Geldautomaten zu nutzen, stehen beide zunächst vor einem verschlossenen Fahrstuhl. Erst auf einem kleinen Schild wird der Umweg über eine Hintertür angezeigt. Immerhin: Es gibt einen Umweg.

Kein Anruf für Karo Otte
Die Grünenpolitikerin Karo Otte hat sich ebenfalls für den Rollstuhl entschieden und wird von Nicole Romanus begleitet. Ihr größtes Abenteuer erleben beide auf der Suche nach dem einzigen öffentlichen und behindertengerechten WC in der Innenstadt. Wer es nicht weiß, kann dieses nur im zweiten Stock des CityCenters nur vermuten. Dass es dafür aber erst einen Schlüssel braucht, der am Ende drei Türen öffnet, wird Ortsfremden nirgendwo erklärt. „Als wir dann den Notruf ausprobierten, war kein Anschluss unter dieser Nummer“, sind beide empört. Für den Kauf eines Eisbechers in der Fußgängerzone gibt es von beiden aber den Daumen hoch: Die Theke ist leicht zu erreichen, Personal und Gäste bieten Hilfe an oder stellen kurz einen Stuhl aus dem Weg. „Und geschmeckt hat es auch“, sagt Otte.

Eine Stütze für Simon Hartmann
Simon Hartmann machte im wahrsten Sinne des Wortes das Licht aus. Mit einer Augenklappe und einem Gehstock erlebte er die Northeimer Innenstadt und vor allem das Markttreiben mit allen Sinnen – außer dem Augenlicht. Dabei stützte er sich immer wieder auf Bernd Bressel ab. Der ehemalige Northeimer ist selbst erblindet und arbeitet als Suchtkrankenhelfer beim Freundeskreis in Uslar. Wie wichtig Hartmann diese Stütze ist, wird ihm sehr schnell deutlich. „Mir war durchweg schwindelig“, erzählt er. Gemeinsam kauften sie ein, versuchten Geld abzuheben und drängten sich durch das enge Markttreiben. „Ich kenne mich hier in Northeim ja zum Glück aus und kann mich orientieren. Aber spätestens beim Geldabheben ging nichts mehr“, sagt Hartmann.

Sichtbarkeit für Unsichtbares
Hinter dem Experiment steckt die Aktion Mensch und der am 5. Mai anstehende Aktionstag für Inklusion. Viel mehr ist es sogar ein Protesttag für die Interessen von Menschen mit Behinderungen. In Northeim möchte darauf die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung, kurz EUTB, aufmerksam machen, sagt Susanne Grebe-Deppe. Träger ist der SoVD. Sie bat die Teilnehmenden am Ende der rund zweistündigen Reise auch um ein Fazit. Das fiel unterschiedlich aus. Klar ist aber allen dreien, dass sich etwas änder müsse. Vor alle aber müssen die viele kleinen und für nichtbehinderte Menschen unsichtbaren Problemstellen sichtbar gemacht werden, um sie zu beheben.
Was jetzt passieren muss
Otte, Heiligenstadt und Hartmann haben angekündigt, ihre Möglichkeiten zu nutzen und Veränderung herbeizuführen. Am nächsten dran ist dabei Bürgermeister Simon Hartmann, der aber auch betonte, „das wir hier sehr dicke Bretter mit sehr dünnen Bohrern bohren müssen“. Frauke Heiligenstadt sieht Chancen vor allem auch bei privaten Entscheidungsträgern und Unternehmen, zum Beispiel bei der Gestaltung von Geschäften auch auf die Bedürfnisse behinderter Menschen zu achten. „Das fängt bei Bordsteinen an und hört bei den Kleiderständern nicht auf“, sagt die SPD-Politikerin. Karo Otte hofft, mit Aktionen wie diesen mehr Menschen bewusst mit dem Thema Inklusion vertraut zu machen.