Es ist ein Dilemman, denn Jens Gillner weiß nicht, was er anziehen soll. Am kommenden Dienstag, 22. November, wird der Pastor um 18:30 Uhr vor dem Altar der St. Sixti Kirche stehen und den ersten Rettergottesdienst beginnen. Ein Gottesdienst für Mitglieder und Freunde von Rettungsorganisationen, die Blaulichtfamilie. Aber zu dieser gehört Pastor Jens Gillner ja selbst auch, schließlich ist er Notfallseelsorger. Über beides habe ich mit ihm gesprochen. Und die Frage: Talar oder Einsatzjacke?
Ein Gottesdienst für die Blaulichtfamilie
„Eigentlich“, sagt Jens Gillner, „ist das ja klar.“ Bei einem Gottesdienst trägt der Pastor seinen Talar: ein langer, dünner, schwarzer Mantel mit weißerBeffchen am Hals. Doch Jens Gillner ist beim Rettergottesdienst am Dienstag, 22. November, um 18:30 Uhr in St. Sixti eben nicht nur bloß Pastor. Er ist auch Notfallseelsorger, wird gerufen, wenn an einer Einsatzstelle jemand gebraucht wird, der oder die sich wortwörtlich um eine Seele sorgt und kümmert.
Die Notfallseelsorge
Das Team der Notfallseelsorger in der Region besteht aus 20 hauptamtlichen und ehrenamtlichen Kräften im Kirchenkreis Leine-Solling. Koordiniert und geleitet werden sie derzeit von Martin Possner aus Moringen, Annette Hartmann und Melanie Brühler. Dieser Dienst ist laut Jens Gillner freiwillig, denn „nicht jeder kann das tun und nicht jeder will das tun.“ Er selbst hat sich 2010 schon für diesen Dienst entschieden, nach seiner Rückkehr 2017 nach Northeim übernahm Gillner auch hier ab 2018 diese Aufgabe.
Das ehrliche S-Wort
Um diese ausführen, tragen sich die Notfallseelsorgenden in eine Liste ein, um ihre Verfügbarkeit anzuzeigen. „Normalerweise übernimmt dann jemand für drei Tage jeweils 24 Stunden die Bereitschaft“, erklärt Pastor Gillner. Die Helfenden haben dazu einen Melder, wie ihn auch Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr bei sich tragen. So können sie ebenfalls über die Rettungsleitstelle des Landkreises alarmiert werden. Für Gillner jedes Mal ein Moment, bei dem er zusammenzuckt.
Schlimme Bilder und der Tod
Was er damit meint ist die Tatsache, dass die Notfallseelsorgenden immer zu Situationen gerufen werden, in denen Menschen großes Leid erfahren haben und nun Unterstützung benötigen. Nach einem schweren Unfall zum Beispiel, einem Todesfall, der einen Schock bei den Angehörigen auslöst. Gewalttaten, Großeinsätze oder verzweifelte Familien vor brennenden Häusern. „In diesen Extremsituationen bin ich Kümmerer und Vermittler“, sagt Gillner.“ Es sind immer endgültige Einsätze, die mit dem Tod zu tun haben und mit schlimmen Bildern.“
Notfallseelsorge mit und ohne Gott
Wird Notfallseelsorger Gillner zu einem Einsatz gerufen, kennt er seine Rolle, ist Protagonist, ist Teil des Geschehens – aber im Hintergrund. „Ich bin eben auch Vermittler zwischen den Opfern und den Einsatzkräften.“ Quasi ein Übersetzer zwischen den Dingen, die passieren und der schieren Überforderung derer, die sich urplötzlich in einer Extremsituation wiederfinden. „Ich weiß nie, was mich erwartet. Deshalb gebe ich den Menschen den Raum, mit mir zu sprechen“, sagt Gillner. So werden Stück für Stück die Seelen etwas leichter und Vertrauen aufgebaut.
Der Glaube als Handwerkszeug
Er selbst findet als Pastor seine Kraft, in diesen Situationen beizustehen, im Glauben. „Er gibt mir selbst ein Fundament, um in schwierigen Situationen zu bestehen und zu helfen.“ Nach außen aber steht Kirche nicht im Mittelpunkt. Zwar organisiert der Kirchenkreis die Notfallseelsorge, „wir sind aber keine Missionare“, betont Gillner. Tatsächlich stehe es allen frei, sich ehrenamtlich als Notfallseelsorgende einzubringen. Das nötige Handwerkszeug dazu bringt eine modulare Fortbildung und der Austausch mit erfahrenen Seelsorgenden. Wichtig sei aber in jedem Fall, dass Interessierte selbst gefestigt sind, Empathie besitzen und offen für die Menschen sind, betont Gillner.
Menschen statt Kirche im Mittelpunkt
Kirche steht nicht im Kern der Seelsorge, „sondern das Mensch zu Mensch“, sagt Gillner. „Das kann ich gut tun, weil ich meinen Glauben dabei habe und ich weiß, dass man aus Krisen gestärkt gehen kann. Der Glaube daran: Am Ende wird alles gut.“ Er könne auch nicht anders, sieht sich in der Pflicht zu dieser Aufgabe. „Man wird gebraucht und kann helfen“. Wenn der Melder geht, greift er nach dem ersten Schütteln deshalb zu einem vorgepackten Rucksack, seiner Jacke – und fährt unvoreingenommen zu jedem Menschen, der um seine Hilfe bittet.
Ein Gottesdienst, der Raum schafft
Diese Hilfe soll nun am kommenden Dienstag auch den Rettern helfen. Denn auch das sei Aufgabe der Notfallseelsorge. Auch bei diesem „Einsatz“ weiß der Pastor noch nicht, was, wer und wie viele Menschen ihn erwarten. „Ich weiß nicht, wie nah oder fern die Menschen im Glauben sind. Aber auf jeden fall werden sie neugierig sein.“ Es soll ein Gottesdienst „für die Blaulichtfamilie“ werden, betont Gillner. Und für ein schweres Jahr der Einsatzkräfte. „Wenn wir in unserer Familie einen Verlust haben, dann schaffen wir Raum, um zu trauern und zu trösten“.
Das will Pastor Jens Gillner tun, gemeinsam mit denen, die täglich zum Melder greifen, eine Uniform als Rüstung anziehen und Leben retten, aber nicht immer siegen. Inzwischen weiß er aber, was er anziehen wird. „Der Talar ist an diesem Tag meine Uniform.“