Im historischen Gewölbekeller von St. Blasien betreibt Günter Pauler seit mehr als 50 Jahren sein Tonstudio.

Gemeinsam mit der NOM WMT treten wir an einem Spätherbsttag in einer vielen Northeimern bisher unbekannte Welt ein, die an einer einfachen Holzür eines Fachwerkhauses beginnt. Günter Pauler, 82 Jahre alt, grüßt mit einem weichen, aber bestimmten Händedruck. Wir legen unsere Jacken und das „Sie“ ab, schauen, blicken, entdecken.

Plakate und goldene Schallplatten hängen an den Wänden. Frische Blumen stehen auf einer glänzenden Kommode, aus einem Nebenraum kommt Musik. Links und rechts sind kleine Zimmer mit großen Lautsprechern. Eine Harfe aus dunklem Holz ist zu sehen, ein riesiger Plattenspieler, kleine Hebel, Schalter und Knöpfe auf einem Mischpult.

Günter Pauler (links) und WMT-Geschäftsführer Michael Eilers-Turau im Gespräch

In der Singer-Songwriter-Szene ist Günter Pauler eine Legende, ein Magier der Klänge, der in der Fachwelt höchstes Ansehen genießt. Doch wer hätte gedacht, dass sich hinter den dicken Mauern eines alten Northeimer Klosters ein Tonstudio von Weltklasse verbirgt? Dass hier, in der Provinz, Alben entstehen, die Musikliebhaber in aller Welt als klangliche Referenz feiern? Pauler und sein Label Stockfisch-Records stehen für naturnahe, unverfälschte Klänge und perfekte Produktionen – getreu dem Motto „closer to the music“, ganz nah an der Musik.

Heute glänzt das Studio im sanierten Klostergewölbe. Doch der Anfang war alles andere als glänzend. Wir schreiben das Jahr 1975: Pink Floyd veröffentlichen gerade “Wish You Were Here“, Hannes Wader singt “Volkssänger“ und in Northeim wartet ein verlassenes Gemäuer auf sein Schicksal. In diesem Jahr kommen Günter Pauler und seine Frau Evelyn aus Braunschweig in die kleine Fachwerkstadt. Der damalige Stadtjugendpfleger Harald März hat dem Tontechniker einen Tipp gegeben: In Northeim stehe ein altes Herrenhaus leer, Teil des einstigen Klosters St. Blasien. Vielleicht ein Ort für Paulers Traum vom eigenen Tonstudio.

Neugierig steigt das junge Paar damals die morsche Treppe zum Keller hinab. Feuchter Modergeruch liegt in der Luft. Oben fehlen Fenster und Türen, das Dach ist halb eingestürzt. Das Haus ist praktisch eine Ruine. Niemand außer ein paar Tauben wollte hier wohnen. Doch Pauler sieht etwas, was andere nicht sehen: Möglichkeiten. „Wir waren froh, dass wir hier unsere Pläne umsetzen konnten“, erinnert er sich heute an den Einzug in das marode Gemäuer. Für damals 240 Mark im Monat dürfen sie bleiben. Eigentlich viel Geld für ein abrissreifes Haus ohne Fenster und Türen. Also ziehen die Paulers ein, quasi als Hausbesetzer mit Mietvertrag. Sie beginnen, Schutt hinauszuschaffen und Kabel hineinzuverlegen. Im mittelalterlichen Gewölbekeller soll zuerst das Tonstudio entstehen, dort unten ist es trocken, und man kann ungestört arbeiten.

Das Team von Günter Pauler gemeinsam mit Michael Eilers-Turau und Innenstadt-Wirtschaftsförderin Sophie Pyrkotsch

Mit viel Schweiß und Eigenarbeit haucht das Paar dem Gemäuer neues Leben ein. Stück für Stück richten sie das Studio ein: einfache Tonbandgeräte, zwei Mikrofone, Teppiche gegen den Hall. Im Wohnzimmer über dem Keller schlafen sie zwischen unverputzten Wänden. Und tatsächlich: schon die ersten Aufnahmen hier sind besonders. Günter Pauler und sein Braunschweiger Freund Hansi Dobratz hatten kurz zuvor mangels Interesse der großen Plattenfirmen ihr eigenes Label gegründet und suchten verzweifelt nach einem originellen Namen. In einer Kneipe blätterten sie im Telefonbuch und ließen den Finger blindlings fallen: Stockfisch! Ein Herr namens Jürgen Stockfisch war zwar wenig begeistert, doch der ungewöhnliche Name blieb.

Unter diesem Label veröffentlicht Pauler 1975 die Platte „10,000 Miles“ mit Liedermacher Werner Lämmerhirt und landet prompt einen Achtungserfolg. Über 115.000 Mal verkauft sich diese erste Scheibe. Für Pauler ist das der Startschuss: Northeim soll seine musikalische Heimat werden.

Während oben im Haus noch Balken und Bohlen ersetzt werden müssen, erklingen unten im Keller schon feine Klänge. Nach und nach spricht sich die hervorragende Akustik im Klostergewölbe herum. Bald geben sich Musikerinnen und Musiker die Klinke in die Hand. Die Elite der Liedermacher- und Folk-Szene pilgert in die Provinz: Reinhard Mey und Hannes Wader kommen immer wieder vorbei, um in Northeim aufzunehmen.

Nicht nur musikalische Schätze fördert Pauler in St. Blasien zutage. Bei den Sanierungsarbeiten im Keller stießen die Paulers buchstäblich auf Knochen der Stadtgeschichte: ein menschliches Skelett, das sich als Überrest von Graf Otto von Northeim (1020–1083) entpuppte. Jahrhunderte lang hatte der mächtige Graf hier unter den Klosterfundamenten geruht. Beinahe wäre er für immer unter einem Parkplatz verschwunden. „Ohne unsere Hausbesetzung gäbe es den St.-Blasien-Komplex nicht mehr, und Otto von Northeim wäre unerkannt unter einem City-Center-Parkplatz verschwunden“, sagt Pauler mit einem Schmunzeln. Sanfte Ironie schwingt in seiner Stimme mit Stolz: Ihre Hartnäckigkeit hat nicht nur einen kulturellen Ort gerettet, sondern auch der Stadt ihre eigene Geschichte bewahrt. Das alte Gemäuer hat dank Pauler eine Zukunft – und Northeim hat ein Stück Vergangenheit zurückbekommen.

Aus dem kleinen Kellerstudio ist heute ein High-Tech-Tonstudio geworden, doch Pauler hat die Seele des Ortes bewahrt. Noch immer hängen an einer Wand die alten Tonbandmaschinen als Andenken, während daneben hochauflösende Monitore flimmern. Die Kombination aus Tradition und Innovation gehört zu Paulers Geheimnis. Hier treffen historische Instrumente und uralte Klangkunst auf eigene technische Neuerfindungen für den Musikmarkt. So besitzt Stockfisch-Records heute eine seltene Direct-Metal-Mastering-Schneideanlage, um Schallplatten direkt in Kupfer zu schneiden – eine fast vergessene Technik, die Audiophile begeistert. Gleichzeitig tüftelt das Team an modernen Klangerlebnissen: Ob Stereo, Surround oder die Wiederentdeckung analoger Tonbänder – erlaubt ist, was gut klingt. Selbst HiFi-Lautsprecherkabel vertreibt Pauler inzwischen in die ganze Welt; ein eigener Online-Shop beliefert Tausende Kunden von Europa bis Asien.

Günter Pauler meint es ernst mit Northeim

Was als Bastlerwerkstatt in den 1970ern mit selbstgebauten Verstärkern begann, hat sich zu einem vielseitigen Unternehmen entwickelt – doch immer geht es um eines: den bestmöglichen Klang. Und der zieht noch immer Künstler aus aller Herren Länder an. Über 1.000 Musikproduktionen „made in Northeim“ hat Stockfisch in den vergangenen 50 Jahren hervorgebracht. Von sensiblen Akustik-Balladen bis zu opulenten Orchesteraufnahmen, alles findet seinen Weg in das Archiv unter dem Klostergewölbe. Vor einigen Jahren verschlug es Günter Pauler sogar in die Ferne: Im September 2011 packte er sein Aufnahmegerät ein und reiste nach Peking, um in der Concert Hall des chinesischen Rundfunks ein besonderes Projekt zu verwirklichen. Gemeinsam mit Chinas berühmtester Sängerin Song Zuying und dem China Philharmonic Orchestra nahm er uralte chinesische Liebeslieder auf – Lieder aus 2500 Jahren Kulturgeschichte, eingefangen mit Paulers mobilem Equipment.
Das Ergebnis? Eine Produktion voller zarter Zwischentöne und gewaltiger Klänge, die so überzeugend war, dass sie wenig später für den Grammy nominiert wurde. Wer hätte sich 1975, beim Anblick der verfallenen Klosterruine, träumen lassen, dass hier einmal eine Grammy-Nominierung ihren Ursprung haben würde?

Nach solchen Ausflügen in die weite Welt kehrt Günter Pauler immer wieder gern nach Northeim zurück. Er ist ein Pendler zwischen zwei Welten. Vor allem aber zwischen Northeim und der Welt. Auf der einen Seite die große, weite Musikwelt: Metropolen wie Beijing oder London, in denen er Konzerthallen bespielt. Auf der anderen Seite Northeim, die scheinbar stille Provinz. Aber Pauler lächelt: „In Northeim bin ich verwurzelt.“ Hier kennt er jeden Stein im alten Kloster, hier hat er seine Familie großgezogen. Hier sind die Werte entstanden, die sein Schaffen prägen – Qualität, Authentizität, Ausdauer. Große Kunst braucht ein Fundament, sagt er – für ihn sind das seine Werte und seine Heimat.

Und dort hat er viele und vieles kommen und gehen sehen. Die aktuelle Entwicklung der Rhumestadt betrachtet er Kritisch: Innenstadt, Münsterplatz, Unternehmertum: „Man muss für etwas kämpfen, damit es Bestand hat.“ Northeim, so viel ist klar, liegt ihm am Herzen. Der erfahrene Tontechniker und Unternehmer hat miterlebt, wie seine Stadt sich verändert – mal aufblühte, mal zu kämpfen hatte. Er weiß um die aktuellen Herausforderungen, denen Northeim gegenübersteht. Gerade deshalb ist ihm die Botschaft wichtig, die auch an diesem Tag in seinem Studio mitschwingt: Es lohnt sich, für Northeim zu kämpfen.

Zum Abschied führt Günter Pauler die Gruppe aus dem Gewölbe hinaus. Die Herbstsonne lässt die frisch verputzten Fassaden des St.-Blasien-Herrenhauses warm leuchten. Kaum zu glauben, dass diese Mauern einst vom Einsturz bedroht waren.

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