Irgendwann in den vergangenen Monaten muss es den 150 Schülerinnen und Schüler des Corvinianum in Northeim und der KGS in Moringen ähnlich gegangen sein. Sie saßen vor einem leeren Stück Papier und hatten die Aufgabe, es mit Worten zu füllen. Worten, die tief aus dem Herzen kommen, tief aus der Seele und geformt vom Verstand. Es war der Start eines besonderen Projektes an beiden Schulen, welches im Poetry Slam am vergangenen Donnerstag in der Northeimer Stadthalle gipfelte. Aus den 125 Corvi-Schülern und 25 Schülern der KGS sind 15 übrig geblieben. Zum vierten Mal standen da 16 junge Menschen mit Texten in der Hand, kraftvoll und zärtlich, wichtig und gewieft. Texte, denen wichtige Fragen vorangegangen sind und die Hoffnung machen auf eine Generation, die, je älter sie wird, großartige Antworten im Leben finden wird. Wie es war und einen ganzen Haufen Bilder findest du im folgenden Artikel.
Ein Poetry Slam ist mehr als nur das Vortragen von Gedichten oder Texten. Um die Jahrtausendwende kam der Trend auch nach Deutschland, poetische und emotionale Texte mit mehr oder weniger Show vorzutragen. Felix Römer, der auch in diesem Jahr die Northeimer Schülerinnen und Schüler Coachte, gehört zu den Pionieren der deutschen Poetry-Slam-Szene. Es ist das vierte Mal, dass Schülerinnen und Schüler mit eigenen Texten auf die Bühne der Stadthalle steigen um diese vorzutragen.
Bühne und Publikum waren bereit an diesem Abend. 200 und mehr sind die Stadthalle gekommen, um 16 Texte von jungen Menschen zu hören. Vorgetragen im Rahmen des vierten Poetry Slams in Northeim. 16? Ja genau. Aber dazu später mehr. Eigentlich sollte dieser Poetry Slam schon im vergangenen Jahr stattfinden. Slam-Coach Felix Römer war mit weiteren Profi-Slammern bereits nach Northeim gereist und hielt die ersten Trainings in den Schulen ab. Doch die Pandemie kam genau so zurück. Pläne, die Veranstaltung online stattfinden zu lassen, wurden schnell verworfen. Denn wer in diesem Jahr dabei gewesen ist, dem wird schnell klar: diese Jungen Menschen haben die große Bühne und das Publikum verdient.
Nach fünf Texten entscheidet das Publikum mit Applaus, welcher ihnen am besten gefallen hat. Nach drei Runden werden die jeweils besten Texte und Texterinnen und Texter ausgezeichnet. Spoiler: Keiner der Teilnehmer kam an diesem Abend ohne tosenden Applaus nach Hause. stehende Ovationen gab es für Ivan Kapatsyn. Der Schüler ist aus der Ukraine geflüchtet und lernt erst seit kurzer Zeit die deutsche Sprache. Trotzdem präsentierte er einen einfühlsamen und zugleich eindringlichen Text auf der Bühne, sprach über das Fremdsein in einem fremden Land und die Heimat, die darauf wartet ihn und seine neuen Freunde aus Deutschland bald wieder zu begrüßen. „Wenn das alles vorbei ist, seid ihr unsere Gäste!“ Umarmungen gab es im Anschluss von seinen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden.
Fast alle Texte setzen sich mit der Suche nach sich selbst auseinander und lassen damit einen tiefen Blick in die Seelen und Gedankenwelten der jungen Menschen zu. Paulina Heimerl sprach über einen viel zu frühen Abschied von einer Freundin, für den nicht nur sie sich im Anschluss eine Träne vom Gesicht wischen musste. Max Bierbaum hatte mit seiner Adaption des Fußballklassikers von Brösels „Werner“ alle Lacher und am Ende auch den lautesten Applaus auf seiner Seite. Mit ihrem Text „Wenn ich nicht ich selbst wäre“ feierte Mira Hampe aber ganz bewusst das „Anderssein“, hinterfragt die Suche nach Identität anhand der Wahrnehmung anderer und wurde damit knapp Zweite.
Pauline Paare beweist, dass auch Nach-2000-Geborene nicht vergessen, was die Urgroßeltern-Generation Anfang des 20. Jahrhunderts verpasst hat, zu verhindern. Der Hass auf Menschengruppe, der Mord an Andersdenkende und einen Kulturkreis in seiner Gesamtheit „darf nicht vergessen werden“. Weil sie in ihrem Text nicht nur den Finger hebt, sondern auch gekonnt Spannung in ihrer Rede aufbaut und mit Worten spielt, gewinnt sie ihre Runde eindrucksvoll. In vielen Texten kommt insbesondere das Bildungssystem nicht gut weg. Entweder zwischen den Zeilen, oder wie bei Espen Adloff gleich zu Beginn des Slam mit seinem Text „Einbildungssystem“ ziemlich deutlich.
Die einzigen älter als 18, die an diesem Abend auf die Bühne steigen, hielten sich gekonnt zurück und waren eines: dankbar. Moderator Felix Römer kümmerte sich um die gute Stimmung zwischen den Performances, Erika Riedel vom Förderverein der Stadthalle gilt seit vielen Jahren als Mentorin der Szene. Sei lenkte die Aufmerksamkeit auf die, um die es eigentlich geht: Die Jugendlichen. Ein großes Dankeschön gab es vor allem in Richtung Sylvia Ernst, die grade frisch Mutter geworden ist und sonst den Slam einleitet. Seit Jahren als Patrone des Poetry Slams setzen sich außerdem die Lehrer Marco Wolff und Katja Rott mit purer Leidenschaft dafür ein, dass das Event wächst – und wieder und wieder und wieder stattfinden kann und darf.
Was bleibt von diesem vierten Poentry-Slam übrig? Zum Schutz der Gesundheit war es richtig, die Veranstaltung von 2021 zu verschieben. In der Folge war es die bisher professionellste Veranstaltung und in sich erwachsen geworden. Das liegt nicht nur am gewachsenen Publikum, sondern vor allem an den Schülerinnen und Schülern, die Leidenschaftlich in ihren Rollen aufgehen und das ursprünglich als reines Schulprojekt angedachte Angebot der Coachings und Bühnenshow angenommen haben. Sie müssen nicht mehr, sie wollen – und das macht den Unterschied. Die Organisatoren wollen nicht nur, sondern müssen sich jetzt auch auf die Schultern klopfen (lassen).
Mitgemacht haben in diesem Jahr Espen Adloff, Niklas Barbeln, Charlotte Barghorn, Max Bierbaum, Franziska Hackbarth, Julius Haupt, Paulina Heimerl, Kaja Helmers, Hannah Labuhn, Greta Marienhagen, Pauline Paare, Magi Paliukhovich, Ester Sommer, Stine Asmuth, Mira Hampe und Ivan Kapatsyn außerhalb des Wettbewerbs.