Ein Reisebus liegt auf der Seite, zwei Autos sind schwer verunglückt und ein Lastwagen blockiert die Landstraße. Schreie hallen durch das Dunkel der Nacht, blutige Handabdrücke führen zu Schwerverletzten. Es war die aufwändigsten Großübungen der vergangenen 30 Jahren in Northeim. 150 Retter waren im Einsatz, 50 Helfer mimten die Verletzten. Northeim-jetzt war von Anfang an dabei.

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Wie alles begann

Vor Monaten klingelt am späten Abend das Telefon. Am anderen Ende ertönt die Stimme von Daniel Kühle, Zugführer der Northeimer Feuerwehr. „Christian, wir haben da eine Idee“, sind die ersten Worte. Diese Worte kenne ich von Daniel. Das letzte Mal habe ich sie gehört, als wir ein gemeinsames Wochenende verbracht haben. Diesmal sollte es nicht anders werden. Er sprach von einer „großen Sache“, die es „so noch nicht gegeben hat“. Eine Übung, so geheim, das niemand davon erfahren darf. „Wir legen einen Bus auf die Straße“, sagte Daniel damals. Stille. „Bist Du dabei?“ Nach der großen Reportage im vergangenen Jahr dachte ich eigentlich, 2019 eine Blaulicht-Pause zu machen. Aber wenn die Feuerwehr ruft und die größte Einsatzübung seit Jahrzehnten angekündig – sollte ich meine Kamera dann wirklich Zuhause lassen? Natürlich nicht.

Das Szenario…

… ist schnell erklärt. Auf der Landesstraße entlang des Northeimer Kieswegs kollidiert ein Bus mit 40 Reisenden mit zwei Autos und einem Lastwagen. Während des ersten Zusammenstoßes kippt der Bus auf die Seite und rutscht mehrere Meter weit, ehe ein weiteres Auto in den liegen Bus stößt. Im Bus, den Autos und im Lastwagen werden die Insassen zum Teil schwer verletzt, einige irren an der Unfallstelle umher. Dargestellt werden diese durch die realistische Unfall-Darstellung; geschminkte Laienschauspieler. Um den Bus auf die Seite zu bekommen, hilft das Northeimer Unternehmen Schnitger mit Kran, Sattelzug – und Bus – aus. Auch die Basis für die Vorbereitungen findet bei Schnitger ein Zuhause. Die Firma Oppermann unterstützt rund um das Kieswerk mit Stellplätzen und einen großen Radlader. Einen schönen Bericht der Übung selbst gibt es bei den Kollegen von HNA zu lesen.

Höchste Geheimhaltung

Für Daniel Kühle und seine Kollegen als Vorbereiter der Großübung ist Verschwiegenheit das Rezept zum Erfolg. Je weniger davon wissen, desto großer ist am Ende der Überraschungseffekt für die eintreffenden Einsatzkräfte, so die Theorie. Nur wenige Mitwirkende sind deshalb eingeweiht, darunter der Stadtbrandmeister, der Bürgermeister Simon Hartmann und der an diesem Abend zuständige Brandmeister vom Dienst. „Die Verletztendarsteller haben wir aus Nachbarlandkreisen rekrutiert, genau so wie die Übungsbeobachter“, sagt Kühle. Diese sollen während der Übung die Arbeit der Einsatzkräfte bewerten und Fehler aufzeichnen. Denn darum geht es grundsätzlich bei jeder Übung: lernen und verbessern. Etwas so großes geheim zu halten, ist nicht einfach. Spätestens, wenn die Straße gesperrt, der Kran aufgestellt und der Bus umgeworfen wird.

20:00 Uhr

Es ist noch nicht ganz 20 Uhr und die Sonne steht noch immer gleißend weit über dem Horizont. Am Gelände der Firma Schnitger in Northeim sammeln sich nach und nach die Verantwortliche, Organisatoren und Verletztendarsteller. Ob es Absicht war, das sich für diese Giganten-Übung ausgerechnet der Tag mit der kürzesten Nacht ausgesucht wurde? Der längste Tag des Jahres? 60 Menschen bilden einen Kreis. Zusammen mit dem Bürgermeister, einigen Wenigen vom Landkreis Northeim und dem Stadtbrandmeister sind sie die einzigen, die wissen, das heute Nacht die Sirenen heulen wird. Die einzigen, die wissen, dass das eine Übung und kein Ernstfall ist.

Schnitger-Chef Daniel Wenzel kümmert sich an diesem Abend um das schwere Gerät. Erfahrung damit hat er genug: die Northeimer Firma hat sich spezialisiert auf gigantische Hebebühnen, Abschleppfahrzeuge und Kräne. Alles, was mannshohe Räder hat, steht hier auf dem Gelände. Und dieses Gelände stellt er nun auch zur Verfügung: Darsteller werden untergebracht, ein Grill sorgt für heiße Würste, gesponsert von Leinemann. „Ich hab ihm gesagt; wofür, das erfährst Du aus der Presse“, sagt Wenzel mit einem breiten Grinsen.

Daniel Kühle hat seit der Planung den Hut auf. Der Zugführer der Freiwilligen Feuerwehr Northeim hat auch die Zwei-Tages-Übung im vergangenen Jahr ausgearbeitet. Er weiß als einziger genau, was die noch arglosen Kameraden der Feuerwehr in dieser Nacht erwarten wird.

Florentine Walther organisiert die Verletztendarsteller. Auch sie war bei der Zwei-Tages-Übung dabei und ist vielen Einsatzkräften durch ihre leidenschaftliche Schreikunst in Erinnerung. Aber so viele Menschen auf einmal zu schminken und in die Lage der Übung zu versetzen – „das ist auch für mich neu“.

21:35 Uhr

Crunshtime heißt es im Basketball. An keiner Stelle ist nun Untätigkeit zu sehen. Florentine und ihre Mitstreiter sind fleißig. Gruselige Verletzung werden aufgemalt, Knochenstücke in Knete gesteckt und Beulen simulieren. Eine junge Frau trifft es am härtesten: eine offene Fleischwunde ist nun dort, wo vorher ihre linke Hand war. Mit einer Spritze kann sie die Wunde nachbluten lassen. So grausig es aussieht, so unecht ist es auch. Doch für die Feuerwehrleute im Dunkeln wird es echt. Hart.

Dort, wo in der Nacht fast 150 Feuerwehrleute im Einsatz sein werden, besprechen die Verantwortlichen der Feuerwehr letzte Details mit den Kranführern. Wohin soll der Bus, wohin die Autos? Wann wird die Straße gesperrt? Autos fahren auf und ab. „Das Kennzeichen kenne ich, die gucken schon“, sagt Daniel Kühle. Vater und Kreisbrandmeister Bernd Kühle wird nervös, „ja, das ist er. Der erzählt es rum!“. Droht die Übung aufzufliegen? Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Doch wo, wann, was – bleibt geheim.

Wie angekündigt wird es an diesem Abend nicht richtig dunkel. Durch das geschäftige Treiben kehrt eine gewisse Stille im Lager ein. Alle sind hoch konzentriert, die Spannung steigt. Die Übungsbeobachter gehen bereits die ersten Szenarien durch: wie werden sich die ersten Kräfte am Einsatz verhalten? Wer übernimmt die Organisation der Lage? Wie wird vorgegangen? All das sind Fragen, die diese Übung beantworten soll. Und wo die Schwächen liegen. Sollte es nämlich wirklich einmal zu einem solchen echten Einsatz kommen, dürfen diese Fehler nicht passieren.

Es wird viel gesprochen, manches kurzfristig improvisiert. Das Gros der Arbeit liegt Wochen zurück. „Die Übung selbst“, sagt Daniel Kühle, „ist nur die Kür“. Zu jedem Satz gesellt sich auch ein Stück Ehrfurcht und Staunen. Um das, was hier auf die Beine gestellt wird. Oder besser: was von den Rädern gekippt wird.

23:35 Uhr

Der Bus fällt. Wortwörtlich. Mit einem riesigen LKW-Abschlepper wurde der ausrangierte Linienbus zur geplanten Stelle gefahren. Dicht gefolgt von einem schweren Kran. Der schiebt den Bus schließlich an die richtige Stelle, nimmt ihn an den Haken – und schmeißt ihn auf die Seite. Mit dem Lastwagen wird noch etwas nachjustiert. „So liegt er richtig“, lautet schließlich das Signal. Mit einem weiteren Großgerät wird noch ein Auto in den Bus gerammt, ein weiteres wird in den Grabe geschüttet. Ein dritter 40-Tonner versperrt außerdem den Weg zum Einsatz: auch er soll im Unfall verwickelt sein.

Die Mitarbeiter von Daniel Wenzel gehen dabei so routiniert vor, als würden sie das jeden Tag machen. Und so ganz falsch ist das nicht, nur sonst eben anders herum. In der Zwischenzeit hat die Polizei die Sperrung der geplanten Unfallstelle übernommen. Würde jetzt ein Autofahrer hier vorbeikommen, wäre das ein Schock fürs Leben. Und das Geheimnis keines mehr.

Während die großen Maschinen werkeln, machen sich die inzwischen geschminkten Darsteller zu Fuß durch die Dunkelheit zum Einsatzort. Es wird viel gelacht, von einem Zombi-Marsch ist die Rede. Ganz weit weg ist diese Vermutung nicht. Die Schminke sitzt unheimlich gut und welches schauspielerisches Talent in den Darstellern schlummert, werden die Feuerwehrleute in nur noch wenigen Stunden selbst erleben.

2:17 Uhr

Der Bus liegt, die Verletztendarsteller wurden nach Liste an ihre Positionen verteilt. Die Meisten sitzen im Bus. Und das ist gar nicht so einfach. Liegt so ein Bus erstmal auf der Seite, ergeben sich ganz andere Wege. Sitze sind plötzlich Hindernisse, genau so wie die Stangen zum Festhalten. Zum Einstieg dient nur das Rückfenster, sonst ist alles geschlossen. Noch wird gelacht, gescherzt und etwas Kunstblut verteilt. Kran und Mitarbeiter ziehen sich zurück, Daniel Kühle und Co. kontrollieren abschließend die Gesamtlage. Dann wird der Anruf getätigt. Auch die Leitstelle weiß nicht bescheid: sie bekommen einen Umschlag überreicht, kurz vor dem Start. Inhalt: Übung, los. Die Beobachter ziehen sich zurück, verstecken sich im Gebüsch. Die ersten fünf Minuten sollen so echt wie möglich sein.

Es piept im Gebüsch, der Alarm wurde ausgelöst und die Meldeempfänger melden, was zu melden ist: Unfall mit Bus. Als Erstes kommt der Brandmeister vom Dienst, umherirrende Verletztendarsteller spielen ihren Teil. Geschrei tönt aus dem Bus, Stille aus den Unfall-Autos. Der Funkspruch ist eindeutig: Sirenenalarm hallt über die Weite aus Northeim. Wenige Minuten später taucht die Unfallstelle in blinkendes Blaulicht, schreiende Verletztendarsteller und aufgeregte Feuerwehrleute. Erst, als die Übungsbeobachter aus dem Gebüsch springen, kommt Ruhe und Erleichterung: alles nur eine Übung. Aber was für eine.

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