#AnGedacht ist die Serie auf Northeim-jetzt, in der sich Pastor Jens Gillner der Northeimer Corvinus-Gemeinde ein paar Zeilen Zeit nimmt.

Montag Mittag. Ich stehe auf dem Northeimer Friedhof und betrachte die vollgeschmierten Grabsteine auf dem muslimischen Gräberfeld. Es schaudert mich. Ich konnte es nicht allein bei den Informationen aus der Zeitung oder auf Facebook belassen. Ich musste hinfahren, um selbst zu sehen, was Unbekannte sich da in der Nacht zum Sonntag geleistet haben.

Rote Hakenkreuze auf der Stiftungstafel und auf einem Grabstein; Namen, Symbole und Bilder der Verstorbenen auf den Grabsteinen mit roter Sprühfarbe unkenntlich gemacht.

Auf einem Stein fand sich sogar ein Anarcho-A, so als seien sich die Täter selbst nicht sicher, aus welchem Lager sie stammen.

Was hat sie dazu bewegt, diese Gräber so zu entwürdigen? Ob mit politischem Hintergrund oder einfach nur als bloße Provokation, ist für mich in erster Linie nicht relevant. Maßgeblich ist für mich zuerst die Tatsache, dass hier die Ruheplätze verstorbener Menschen auf niederträchtige Weise angetastet wurden. Doch damit nicht genug: Auch den dazugehörigen Familien wurde damit massiver Schaden zugefügt – Seelenschaden.

Wenn ich sonst über den Friedhof gehe und im Vorübergehen die Namen auf den Grabsteinen lese, dann mache ich mir stets bewusst, dass hinter jedem Namen ein gelebtes Leben steht. Ein Leben, das für andere vielleicht sehr wichtig war, ein Leben, das in wenigen oder auch in vielen Vernetzungen verbracht worden ist, ein Leben, das möglicherweise vielLeidvolles durchzumachen hatte oder auch große Freuden erfahren durfte. Manchmal zeugen die Daten auf den Gedenksteinen von einem sehr langen oder auch von einem sehr kurzen Leben.

Führte eine schwere Krankheit oder ein Unfall zu dem frühen Lebensende?

Hinter jedem Namen stehen in der Regel auch Ehepartner, Kinder und Enkelkinder, stehen Familien und Freunde, die mit dem/der Verstorbenen durch gute und durch schlimme Zeiten gegangen sind. Nicht selten höre ich in Trauergesprächen den Satz: „Nun hat er/sie endlich Ruhe gefunden.“

Für viele trauernde Angehörige in dem Moment der einzige Trosthalm, an den sie sich klammern können. Doch wie man sieht, ist das mittlerweile nicht mehr der Fall.

Ob deutsch oder türkisch, ob muslimisch, christlich oder jüdisch, ob Flüchtling oder hier beheimatet – dort wo ein Mensch beerdigt wurde, ist dieser eben beschriebene Lebenshorizont mitzudenken, einfach weil es sich um einen Menschen handelt. Wo dieser jedoch nicht mehr beachtet und das Recht des Verstorbenen auf seine Totenruhe mit Füßen getreten wird, wird nicht nur der/die Verstorbene verhöhnt, sondern auch alle, die um ihn/sie trauern.

Ich möchte es nicht erleben, dass die Grabstätte meiner Großeltern von irgendwelchen feigen Provokateuren dazu missbraucht wird, um sinnfreie Botschaften unters Volk zu bringen. Es wäre sowohl für sie als auch für mich unerträglich, wenn sich jemand erdreisten sollte, ihr öffentliches Andenken einfach auszulöschen.

Die große Empörung auf Facebook und auch der vorbeigehenden Passanten, denen ich an dem muslimischen Gräberfeld begegnet bin, ist mehr daher als gerechtfertigt, handelt es sich doch hierbei um ein Vergehen gegen ein ureigenes menschliches Bedürfnis: Den Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen, sie an einem guten und geschützten Ort bewahrt zu wissen, und einen Platz zum Trauern zu haben. Niemand hat das Recht, solche Orte anzutasten und deren Würde zu verletzen!

Wo dieses dennoch geschieht, wird deutlich, dass es heute offensichtlich nichts mehr gibt, was als unantastbar gilt – nicht mal mehr die Menschenwürde. Gedankenlos wird ins Lächerliche gezogen oder für die öffentliche Meinungsmache missbraucht, was für Andere großen Wert hat und ihrem Leben eine Struktur gibt.

Gerade die Muslime in Deutschland sind davon betroffen, was man an der Kopftuch-Debatte oder an den Stammtisch-Lästereien über die muslimische Orthopraxie hierzulande erkennen kann (meist ergreifen hier vor allem auch solche Menschen das Wort, die selbst keine Ahnung von ihrer Religion haben!).

Die Schmierereien auf dem Northeimer Friedhof sind schlimm. Solche Respektlosigkeit und mangelnde Achtung gegenüber Menschen rauben mir die Sprache und machen mich fassungslos. Viel erschreckender finde ich aber darüber hinaus, dass sich solche Verrohung in Teilen unserer Gesellschaft mittlerweile festgesetzt hat und dass es unter uns Menschen gibt, denen offenbar nichts mehr „heilig“ ist – wie einst den Tätern in jener Reichskristallnacht im Jahre 1938, die u.a. auch Hakenkreuze an die Schaufenster unbescholtener Mitbürgerinnen und Mitbürger geschmiert haben.

Und wohin uns das geführt hat, wissen wir.

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