Zappelphilipp, Träumer, Faulpelz. Oder: AD(H)S. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ist eine Modeerscheinung der modernen Gesellschaft. Eine Entschuldigung für schlecht erzogene Kinder. Heilbar mit einem Klaps auf den Po. Klar. Aber: Diese drei Sätze sind: ignorant und falsch.

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Nele Sieder aus Northeim hat die Diagnose seit ihrer Kindheit. Ihren Drang nach Bewegung tanzt sie weg. Über den Wirbelwind in ihrem Kopf schreibt sie ein Gedicht; hunderte Northeimer hörten beim Poetry-Slam in der Stadthalle zu. Northeim-jetzt-Redakteur Christian Vogelbein wollte mehr wissen. Er kennt es nämlich auch – dieses Karussell im Kopf. ADS.

Zweimal durcheinander

Als Kind war ich aufbrausend, kreativ und wild. Schon die ersten Schultage waren die Hölle. Facharzt und Uniklinik sagten: ADS. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom ist für die einen eine Ausrede, für die anderen ein ernstes Problem. Die eine Gruppe ist betroffen, die andere muss sie ertragen. Medikamente und Meditation brachten mich zum Abitur und in die Arbeitswelt. Ich, Christian Vogelbein, bin einer von denen, die sich ständig rechtfertigen müssen. Warum ich vergesslich bin. Warum ich manchmal abwesend wirke. Und „es dann doch schaffe, wenn ich will“.

Nele Sieder kennt das. Ihre Mutter Alexandra kennt das. Nele ist 15 Jahre alt und seit sie denken kann, sind diese drei Buchstaben ein fester Bestandteil ihres Lebens. Es geht ums Gehirn, fehlende Botenstoffe, Biochemie. Wer sich für die Zahlen, Daten, Fakten interessiert, darf sich den Wikipedia-Artikel gönnen.

Früher hat die Gesellschaft Betroffene abgehängt, heute helfen Therapie und Medikamente.

Ich versuche zu erklären. Nele versucht zu erklären. Mit einem Gedicht spricht sie zu ihren Freunden und allen Menschen, die es wissen sollen. Wissen müssen.

Um was geht es?

Tatsächlich sind weder das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, noch die Erweiterung um Hyperaktivität (H) eine klassische Krankheit. Viel mehr handelt es sich um eine Stoffwechselstörung im Gehirn. Betroffene sind nicht in der Lage, Eindrücke und Informationen geordnet zu verarbeiten. In der Konsequenz wirken sie in ihrem Verhalten fahrig, unaufmerksam, unkonzentriert und manchmal sogar wirr. Das Vorurteil ist schnell da: Macke.

Für Alexandra, Neles Mutter, war die Diagnose eine Bestätigung.

Dass ihre Tochter anders ist als gleichaltrige, war ihr früh klar. Fachärzte und Kinderpsychologen in Northeim und Göttingen brachten die Antwort.

Was folgte, war aber keine Anleitung für weiteres Vorgehen. Sondern die Gewissheit: wir müssen das genau beobachten. Der bei der Diagnose angefertigte Intelligenztest attestiert Nele nahezu Hochbegabung. Was sie jetzt brauchte: Struktur, feste Abläufe. Als Orientierungshilfe durch den Alltag.

Die nächste Stufe: Abitur. Das wird schwer, sagt Alexandra. Nele nickt, schaut verlegen zur Seite.

AD(H)S und die Welt da draußen

Was nach der Diagnose nicht half: das Unverständnis der Umgebung. Ignoranz, sogar Mobbing. Nele ging offen mit dem Thema um, Lehrer und Mitschüler wissen bescheid. Einmal, erinnert sich Nele, rutschte einem Mitschüler eine Beleidigung mit ADHS-Bezug heraus. Sie hatte damit eine Zeit lang zu kämpfen – löste sich aber mit klugen Gedanken von dem Angriff. „Er beleidigte mich als ADHS-ler. Dabei habe ich nur ADS. Also meinte er mich gar nicht.“

Nele erzählt, stockt. Es ist typisch für Menschen mit ADS, mitten im Gespräch den Faden zu verlieren. Christian Vogelbein kennt das auch. 5 Ideen und 7 Sätze kommen beim Sprechen neu hinzu, wollen auch raus in die Welt. Es kommt zum Stocken, zu Drehern in den Worten.

Freunde von mir haben mal ein Buch geführt mit meinen schönsten Versprechern. Das sah dann irgendwann so aus:

 

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Das ist so lange witzig, bis jemand mit Worten seinen Lebensunterhalt verdient. Als Redakteur ist das ein Treppenwitz. Wie der Profifußballer mit Rasenallergie. Um den Schaden in Grenzen zu halten, wird um die Fehler herum gearbeitet. Doppelter Aufwand für halben Erfolg. Das ist anstrengend – aber möglich.

Hallo, Nele. Hallo.

Nele singt neben dem Ballettunterricht und Showtanz in zwei Chören und spielt Querflöte in zwei Orchestern. Die 15-Jährige finden also ausreichend Kanäle für ihre schier endlose kreative Energie. Aber manchmal, da leidet sie. Das Gedicht, das sie über ADS geschrieben und sowohl in der Schule, als auch beim Northeimer Poetry Slam vorgetragen hat, ist unendlich mutig und wichtig.

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Sie spricht offen über den Wirbelwind zwischen ihren Ohren, über lächelnde Fremde und kopfschüttelnde Lehrer. Über dieses kleine rosa Monster, das in ihrem Kopf sitzt und alles durcheinanderbringt. Über Medikamente, die im Beipackzettel von sehr dunklen Gedanken sprechen. Und eben diese Gedanken.

Nele erzählt von ihren zittrigen Knien auf der Bühnentreppe. Dass es vor hunderten fremder Menschen einfacher war, das Gedicht vorzulesen, also vor ihren Mitschülern. Einen Tag später liest sie es vor ihren Freunden im Chor vor. „Da sind so viele, die mich saugut kennen. Das war sowas persönliches. Das war das erste Mal, als ich dabei auch geweint haben.“

Aufmerksamkeit für das Defizit

ADS hat im Wesentlichen zwei populäre Symptome. Nach außen wirken Betroffene unkonzentriert und leicht beeinflussbar. Nach innen entwickeln sie vor allem Selbstzweifel. Denn eigentlich – nein, fast immer – sind Menschen mit ADS sehr intelligent bis hochbegabt, scheitern aber oft an den einfachsten Dingen. Kein IQ der Welt hilft beim gigantischen Ringkampf um Ordnung und Struktur im eigenen Kopf.

Viele Fragen. Wenige Antworten.

Die Diagnose AD(H)S ist keine Entschuldigung, aber eine Hilfestellung. Es schützt vor endgültiger Verzweiflung, denn es erklärt das manchmal unendliche Durcheinander und die traurigen Gesichter enttäuschter Menschen im Umfeld. Weil ein Versprechen nicht gehalten, ein Termin vergessen oder ein falsches Wort gesagt wurde. Aus Schusseligkeit oder, weil ADS es einfach nicht anders zulässt.

Betroffene haben aber oft den Segen schier grenzenloser Kreativität und Lebensfreude. Und, wie Nele Sieder beweist, eine ordentliche Portion Mut.

 

 

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